Habsburg als Vorbild?

 

Im Rahmen des Projekts RECONNECT hielt die belgische Journalistin Caroline de Gruyter Ausschau nach Parallelen zwischen der untergegangenen Donaumonarchie und der heutigen EU.


„Habsburg Lessons for a Resilient, Democratic EU“, so der Titel des Artikels von Caroline de Gruyter, der auf ihrer Rede bei der Abschlusskonferenz des Projekt RECONNECT im April 2022 beruht. Das interdisziplinäre Projekt hatte zum Ziel, Vorschläge zur Verbesserung der Beziehung zwischen der EU und den von ihr vertretenen Menschen zu liefern.

Die EU, merkt die Autorin einleitend an, wird für vieles kritisiert: Sie sei zu bürokratisch, die Entscheidungen dauern zu lange usw. Manche meinen, sie könnte bald einmal implodieren. Bei ihrem mehrjährigen Aufenthalt in Wien erkannte de Gruyter: Die EU ähnelt darin dem Habsburger­reich, das gleichfalls ständig kritisiert wurde, sich dennoch über viele Jahrhunderte gehalten hat.

Und die Autorin fragt sich: Vielleicht sind die Ansprüche der Bevölkerung an die EU zu hoch, viele Erwartungen unrealistisch? Vielleicht sollte man sich an Habsburg ein Beispiel nehmen? Um darauf eine Antwort zu finden, begibt sie sich auf die Suche nach Parallelen zwischen den beiden Herr­schaftsverbänden.

Vergleich Habsburgermonarchie - EU

De Gruyter stellt anfangs einen zentralen Unterschied klar: Das Habsburgerreich war ein Staat, allerdings kein demokratisch regierter. Die EU hingegen ist kein Staat, aber ein Staatenbund, der sich aus Demokratien zusammensetzt. Doch die Autorin erkennt auch zahlreiche Parallelen zwischen der Donaumonarchie und der EU:

·     Wie in der EU waren im Habsburgerreich verschiedene Nationen mit verschiedenen Sprachen und Kulturen vereint, die alle unterschiedliche Begehrlichkeiten hatten.

·    Um das zu managen, wurden Kompromisse gesucht und gefunden. Dazu wurde oft lange verhandelt, zumal vermieden werden sollte, dass es eindeutige Sieger und Verlierer gibt.

·    Die politische Vereinigung gewährte den BürgerInnen innere Sicherheit, d.h. sie garantierte, dass Konflikte friedlich gelöst und keine Kriege untereinander geführt werden.

·    Auch das Habsburgerreich war ständig im Wandel, es fanden regelmäßig Reformen statt. Diese waren weniger Ergebnisse politischer Initiativen, sondern primär Reaktionen auf interne Begehr­lichkeiten oder auf äußere Ereignisse. Man war insofern durchgängig mit sich selbst beschäftigt (also „navel gazers“).

·     Beide Gebilde waren/sind von Rivalen umgeben. Habsburgs Strategie: Man umgab sich mit Puffer­zonen, schloss mit den rivalisierenden Mächte Verträge ab und spielte auf Zeit. Ähnlich agiert die EU (zumindest bis zum Ukraine-Krieg).

·     Im Habsburgerreich regierte man nach dem Prinzip des „Fortwurstelns“ (Deutsch im Original), d.h. man befand sich in einem permanenten Provisorium.

·    Es herrschte ständige Unsicherheit, was den inneren Zusammenhalt betrifft. Das Gebilde strahlte nach außen wenig Selbstsicherheit aus. Für die EU lässt sich Analoges sagen.

Schlussfolgerungen der Autorin

De Gruyter zufolge hat nicht der Nationalismus das Habsburgerreich zerstört, sondern die Unter­versorgung der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg. Angesichts von Zerstörung, Hunger und wirtschaft­licher Not sah man keinen Mehrwert des Imperiums und folgte den Versprechungen der Nationa­listen.

Ihre Schlussfolgerung für die EU lautet: So weit darf man es nicht kommen lassen. Die soziale Lage muss für die Bevölkerung einigermaßen akzeptabel sein. Darauf sollte die Gemeinschaft ihr Haupt­augenmerk legen.

Generell soll man in der Politik nicht nach Perfektion streben, sondern nach dem, was machbar ist unter den gegebenen Umständen. Und die Alternativen bedenken, die meist schlechter ausfallen, z.B. nationale Alleingänge angesichts globaler Probleme.

Die komplizierten Verfahren werden der EU regelmäßig als Schwäche ausgelegt. De Gruyter sieht das anders: Auch mit langen Beratungen kann man vorwärtsschreiten. Besser als jemanden zu über­gehen und besser als unüberlegte Schnellschüsse.

Kritik

Den Text könnte man auch als Rechtfertigungsschrift für die EU lesen gegenüber ihren Kritikern, mit dem Appell: Schraubt die Erwartungen runter, dann passt es schon. Allerdings ist es sehr wohl ein Problem, dass viele - wie das Projekt RECONNECT erbrachte - zwar hohe Erwartungen an die Problem­lösungskompetenz der Gemeinschaft haben, ihr jedoch nicht die dazu notwendigen Kompetenzen überlassen wollen. Das geht sich nicht aus.

Für ÖsterreicherInnen hat es vielleicht einen gewissen Charme, wenn die Donaumonarchie als Vor­bild für die EU dargestellt wird. Doch gleichzeitig weiß man: Habsburg ist letztlich (nicht ohne Grund) untergegangen und schon allein deswegen kein Erfolgsmodell. Die Doppelmonarchie wird hier – wie in vielen anderen Publikationen – viel zu positiv gezeichnet. Sie war bei weitem nicht so "gütig" wie von de Gruyter beschrieben. Die Charakterisierung von deren Spätphase durch Viktor Adler als „Des­potismus, gemildert durch Schlamperei“ trifft es m.E. ganz gut. Der sozialdemokratische Partei­gründer wusste, wovon er sprach: Er war ob seiner politischen Aktivitäten wiederholt inhaftiert worden.

Das Imperium hatte dennoch gewisse Stärken, die der EU fehlen: eine gemeinsame Verwaltungs­sprache z.B. Es war zudem – anders als in der EU - zentral nicht allzu viel geregelt, aber die wichtigen Kompetenzen, z.B. die Außen- und Sicherheitspolitik, schon.

Die größte Schwäche war vermutlich das Ungleichgewicht zwischen den größeren Nationen Öster­reich und Ungarn auf der einen und den kleineren Nationen, insbesondere den slawischen, auf der anderen Seite. Dies befeuerte den Nationalitätenkonflikt, der schließlich zur Auflösung der Doppel­monarchie führte. D.h. bzgl. Untergang verwechselt die Autorin m.E. Anlass und Ursache.

Die soziale Lage der Bevölkerung ist sicherlich zentral. Insofern sollten die Regierenden, hier ist der Autorin Recht zu geben, stets ein Augenmerk darauf legen. So bekamen etwa die Nationalsozialisten bekanntlich erst im Gefolge der Weltwirtschaftskrise starken Zulauf.

Doch auch der Fokus auf Repräsentation ist wesentlich: Wenn sich bestimmte Nationalitäten oder Bevölkerungsgruppen diesbezüglich übergangen fühlen, dient dies nicht gerade der Loyalität zum politischen System. Hier lässt sich eine weitere Parallele zwischen der EU und Habsburg ausmachen: Der „Ausgleich“ zwischen den zwei größten Nationen, in der EU Deutschland und Frankreich, ist zwar unerlässlich für den Zusammenhalt der Staatengemeinschaft, dieser allein genügt jedoch nicht.

Die Habsburger­monarchie hat jedenfalls gezeigt: Provisorien können sehr lange bestehen. Das kann auch für den Lissabon-Vertrag (als Resultat der gescheiterten Verfassungsbe­mühungen) und die darauf basierende Gemeinschaft gelten.


Hansjörg Seckauer © 2025

 

Quellen

De Gruyter C. 2022: Habsburg Lessons for a Resilient, Democratic EU; https://reconnect-europe.eu/blog/habsburg-lessons-for-a-resilient-democratic-eu/, 20.04.2022

Europäische Kommission 2023: Die Europäische Union den durch sie vertretenen Bürgerinnen und Bürgern wieder näherbringen; https://projects.research-and-innovation.ec.europa.eu/de/projects/success-stories/all/die-europaeische-union-den-durch-sie-vertretenen-buergerinnen-und-buergern-wieder-naeherbringen, 23.02.2023

Kottke K. 2021: Projekt „Reconnect“: EU-Bürger wünschen sich mehr Gerechtigkeit und Mitbestimmung. Pressemitteilung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 15.12.2021

Lackner H. 2016: Kaiser Franz Joseph I.: Despotismus und Schlamperei; https://www.profil.at/oesterreich/kaiser-franz-joseph-i-despotismus-schlamperei-7697725, 21.11.2016

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Armut in der Krisengesellschaft

China und die Neuordnung der Welt

Rot gegen Blau in Oberösterreich