Systematische Benachteiligungen in der Demokratie?

Inwieweit Armutsgefährdete von demokratischen Prozessen ausgeschlossen werden, ist Thema eines gemeinsam mit Christine Stelzer-Orthofer verfassten Beitrags im Sammelband „Armut in der Krisenge­sell­schaft“, herausgegeben von Nikolaus Dimmel et al. Hier die – um aktuelle Daten und einige Anmerkungen ergänzte - Kurzfassung.

 

Überall wird von der „Krise der liberalen Demokratie“ gesprochen, dies wird u.a. an der sinkenden Wahlbeteiligung, der abnehmenden Parteibindung, dem Schwinden der Wähler­basis vormaliger Großparteien und dem parallelen Aufstieg von Parteien am Rande des politischen Spektrums festgemacht.

Mit liberaler Demokratie ist i.d.R. das gegenwärtige politische System gemeint, das sich – auf eine Kurzformel gebracht – hierzulande durch eine Kombination aus repräsentativer Demokratie, Rechts- und Sozialstaat auszeichnet. Inwieweit sich die österreichische Bevölkerung mit diesem System identifiziert, wurde anhand von drei Indikatoren untersucht: dem Vertrauen in das politische System als Indikator für die Output-Legitimation, der Beteiligung an Wahlen, welche hier die Input-Legiti­mation indiziert, sowie der Einstellung zur Sozialstaatlichkeit als inhaltlicher Dimension. Weiters wurde erkundet, ob diesbzgl. jeweils schichtspezifische Unterschiede vorliegen.

Vertrauen in das politische System

Gemäß dem Demokratie-Monitor 2024 sind zwar 90% der von Foresight Befragten von der Demo­kratie als bestmöglicher Staatsform überzeugt, allerdings lässt die Zufriedenheit mit dem politischen System mit einem Anteil von 43% Zustimmung zu wünschen übrig. Zwar liegt dieses Ergebnis über dem geringsten Wert von 34% im Jahr 2022, aber deutlich unter dem Ausgangswert von 64% 2018.

Das Vertrauen in das politische System wird durch die sozioökonomische Lage der Befragten entscheidend mitbestimmt: Während 60% der dem oberen Einkommensdrittel Zugehörigen und 48% der Menschen im mittleren Einkommensdrittel der österreichischen Politik eine gute Funktions­fähigkeit zuschreiben, tun dies im unteren Drittel nur 21%. Auch ist diesbzgl. eine Divergenz fest­stellbar: In den mittleren und oberen Etagen der Gesellschaft hat die Zufriedenheit mit der Politik nach einem zwischenzeitlichen Rückgang zuletzt wieder deutlich zugelegt, im unteren Drittel sinkt dieser Wert hingegen seit 2020 kontinuierlich (siehe Tabelle).

Als Gründe hierfür werden zum einen die höhere Betroffenheit des unteren Einkommensdrittels von den Folgen der Pandemie als auch von den massiven Preis­steigerungen genannt. Zum anderen sind hier die Erfahrungen mangelnder Repräsentation am weitesten verbreitet: Während 56% der Menschen im oberen und 41% der Menschen im mittleren Drittel der Ansicht sind, im Parlament gut vertreten zu sein, sind dies Angehörige des unteren Drittels nur zu 19% (vgl. Foresight 2024).

Der subjektive Eindruck täuscht dabei nicht: Der Anteil der AkademikerInnen im Parlament beträgt derzeit 50,3%, viele davon sind JuristInnen. Verglichen mit dem Akademikeranteil in der Gesamt­bevölkerung von 20,3% ist diese Bevölkerungsgruppe hier somit deutlich überrepräsentiert; auch wenn Österreich nicht an die Werte des deutschen Bundestages mit einem Akademikeranteil von 88% heranreicht. Unterrepräsen­tiert im österreichischen Nationalrat sind neben Nicht-Akademiker­Innen vor allem Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. Kontrast 2024; Kalarickal/ Reinecke 2021).

Vertrauen in das politische System im Zeitverlauf

Jahr

Oberes Drittel

Mittleres Drittel

Unteres Drittel

2018

85

66

49

2019

67

56

36

2020

78

70

43

2021

64

53

38

2022

45

34

29

2023

52

41

24

2024

60

48

21

Anteile derer, die der Ansicht sind, dass das politische System in Österreich sehr bzw. ziemlich gut funktioniert. Angaben in Prozent der jeweils Befragten. Quelle: Foresight 2024

 

Beteiligung an Wahlen

In repräsentativen Demokratien wird die Beteiligung an Wahlen als klassische Form von politischer Partizipation gesehen und somit als brauchbarer Indikator für diese herangezogen. Diesbzgl. zeigt sich, dass jeweils drei Viertel der Wahlberechtigten die Möglichkeit der Stimmabgabe bei den Nationalratswahlen 2013 und 2017 auch genutzt haben, verglichen mit anderen euro­päischen Nationen ein relativ hoher Wert (vgl. Kritzinger/Wagner 2023). Dennoch verzichtet rund ein Viertel der österreichischen Staats­bürgerInnen auf das Recht der demokratischen Mits­prache bei der Zusammensetzung des öster­reichischen Parlaments.

In einer Studie von Ehs und Zandonella (2021) zu den Landtags- und Gemein­deratswahl in Wien 2020 konnte ein Zusammenhang zwischen politischer Beteiligung und sozioökonomischen Ressourcen hergestellt werden: So genannte bürgerliche Bezirke weisen durchwegs eine höhere Wahlbeteiligung auf als Bezirke mit einem deutlich niedrigeren Durchschnittseinkommen. Begründet wird diese Schief­lage dadurch, dass sich Menschen mit einem geringen Einkommen und damit zusammen­hängend einem niedrigen Sozialstatus von der etablierten Politik nicht genügend vertreten und nicht ernst genommen fühlen.

Dieses Gefühl mangelnder Selbstwirksamkeit kommt auch in den Ergebnissen des Demokratie-Monitors 2024 zum Ausdruck: Im unteren Einkommensdrittel sind nur 22% davon überzeugt, mit politischer Beteiligung etwas bewirken zu können. Insofern überrascht es wenig, wenn 40% in diesem Segment angeben, ihre Stimme nicht abgegeben zu haben.

Anzumerken ist zudem, dass rund 1,5 Millionen hierzulande ansässige Personen im wahlfähigen Alter nicht an Wahlen teilnehmen können, da sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen (vgl. Kim et al. 2024). Durch die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU sowie durch Zuwanderung ist der Anteil dieser Gruppe in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. EU-BürgerInnen sind zu­mindest bei Wahlen auf kommunaler Ebene zur Teilnahme berechtigt, Drittstaatenangehörige jedoch nicht. Ein von der Stadt Wien unternommener Versuch der Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auf letztere wurde 2004 vom Verfassungsgerichtshof untersagt (vgl. Perlot/Filzmaier 2023).

Einstellung zum Sozialstaat

Thomas H. Marshall zufolge sind Sozialleistungen und soziale Rechte als materielle Einlösung des demo­kratischen Gleichheitsversprechens zu verstehen. Von Gleichheit kann zwar nach wie vor keine Rede sein, aber doch von einer durch soziale Leistungen bewirkten „Gesellschaft der Ähnlichen“ (Leon Bourgeois). Sozialstaatlichkeit ist insofern ein wesentlicher Teil des demokratischen Grund­konsensus, auch aus Sicht der österreichischen Bevölkerung

Die überwiegende Mehrheit erwartet eine sozialstaatliche Intervention insbesondere in den Risiko­fällen Krankheit und Alter ebenso wie Maßnahmen zur Einkommensumverteilung von oben nach unten. Allerdings ist gemäß den Untersuchungen von Grausgruber (2014; 2018) die Zustimmung zu sozialstaatlichen Aufgaben umso höher, je allgemeiner diese formuliert sind, d.h. spezifischere Fragen führen zu einer geringeren Akzeptanz. Auch zeigt sich hinsichtlich der Zufriedenheit mit den gewährten Sozialleistungen eine deutlich kritischere Haltung. Und ein steigender Anteil der Bevöl­kerung befürchtet eine missbräuchliche Verwendung von wohlfahrts­staatlichen Leistungen.

Die Akzeptanz der Sozial­staatlichkeit ist innerhalb unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen recht uneinheitlich, eine etwas höhere Zustimmung zu einzelnen Maßnahmen und Programmen äußern -wenig überraschend - jene Gruppen, die tendenziell von den Maßnahmen profitieren.

Schlussfolgerungen

Die Ausgangsthese, dass die Demokratiekrise zu einem politischen Rückzug jener führt, die unterhalb der gesellschaft­lichen ökonomischen Mitte angesiedelt sind, konnte bis zu einem gewissen Grad bestätigt werden. Sowohl der Vertrauensindex als auch die Wahlbeteiligung weisen – wie gezeigt werden konnte - deutliche Niveau­unterschiede hinsichtlich der sozioökonomischen Lage auf.

Demokratiepolitisch bedenklich ist weiters, dass längerfristig in Österreich lebende Personen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft von der Möglichkeit, wählen zu gehen, weitgehend ausgeschlossen bleiben (s.o.). Obwohl Öster­reich gemeinsam mit Bulgarien im EU-Vergleich die rigidesten Bestimmungen für den Staatsbürger­schaftserwerb aufweist, erscheinen Erleichterungen hierbei, etwa verkürzte Fristen, derzeit eher unwahrscheinlich, zumal im Regierungspro­gramm diesbzgl. Erschwernisse, z.B. was die erforderlichen Sprachkenntnisse betrifft, vorgesehen sind.

Als Ausweg aus der allgemeinen Demokratiekrise wird zum einen auf den vermehrten Einsatz direktdemokratischer Verfahren wie Volksabstimmungen oder Volksbegehren gesetzt. Hierfür votierten zuletzt vor allem Rechtspopulisten, die ab einer gewissen Unterstützerzahl bei Volksbe­gehren eine verpflichtende Volksabstimmung fordern. Demokratische Vermittlungsinstanzen wie das Parlament würden damit an Bedeutung verlieren bzw. umgangen, weiters ist auf die Manipulations­gefahr durch DemagogInnen und kampagnisierende Medien hinzuweisen. Auch sind die Ergebnisse von Plebisziten stimmungsabhängig und schwerer revidierbar, da ja „das Volk entschieden hat“ (Beispiel: Brexit-Abstimmung).

Zum anderen wird eine verstärkte Anwendung von Beteiligungsverfahren gefordert, z.B. im Rahmen von Bürgerräten. Dies kann im lokalen und regionalen Rahmen, wo die Betroffenen näher an den diskutierten Problemstellungen sind, durchaus Sinn machen; und es kommen hier nicht bloß professionelle PolitikerInnen und etablierte ExpertInnen zu Wort. Allerdings hat sich gezeigt, dass auch von dieser Form der Partizipation vor allem Angehörige der gebildeten Mittelschichten profitieren, die ihre Anliegen so verstärkt in den politischen Prozess einbringen können. Denn hierzu sind Sach­kenntnisse, rhetorische Fähigkeiten und ein selbstbewusstes Auftreten vonnöten, Kompetenzen, die sozial Benach­teiligten ungleich häufiger fehlen (vgl. Jörke 2011).

Die aktuelle Demokra­tiekrise dürfte sich dadurch somit kaum beseitigen lassen. Ansetzen sollte man etwa bei der Repräsentation und darauf achten, dass nicht bloß Angehörige bestimmter sozialer Schichten oder jene mit einem hohen Bildungsgrad im Parlament vertreten sind. Um vorhandene Informationslücken zu schließen, sollte man endlich die politische Bildung in die Lehrpläne integ­rieren, inklusive Medienerziehung und Schulung der Kritikfähigkeit. Aber auch in der Erwachsenen­bildung wären entsprechende Angebote auszuweiten. Und da beobachtet werden kann, dass die Wahl­beteiligung in egalitären Ländern, wo sich schicht­spezifische Ungleichheiten in Grenzen halten, tendenziell höher ist als in anderen Staaten (vgl. Böhnke 2011), liegt der Schluss liegt nahe, auch hierzulande in diese Richtung zu wirken, etwa durch mehr Steuer­gerechtigkeit und ein armutsfestes Sozialsystem.

 

© Hansjörg Seckauer 2025

 

Quelle

Stelzer-Orthofer Ch., Seckauer H. 2024: Die Demokratiekrise gipfelt im systematischen Ausschluss großer Gruppen von Armutsgefährdeten von demokratischen Prozessen, in: Dimmel N., Heitzmann K., Schenk M., Stelzer-Orthofer Ch. (Hg.): Armut in der Krisengesellschaft, Wien

Zitierte Literatur

Böhnke P. 2011: Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation. In: Aus Politik und Zeitgeschichte/ APuZ 1-2/2011

Ehs T., Zandonella M. 2021: Demokratie der Reichen? Soziale und politische Ungleichheit in Wien. In: Wirtschaft und Gesellschaft. 47. Jahrgang, Heft 1

Forsight 2024: Demokratie Monitor 2024. Erste Ergebnisse, Unterlage zur Pressekonferenz, Wien, 18.12.2024

Grausgruber A. 2014: Gesellschaftliche Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat. In: Dimmel N. et al. (Hg.): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck

Grausgruber A. 2018: Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat in Österreich. In: Bacher J. et al. (Hg.): Sozialstruktur und Wertewandel in Österreich. Trends. 1986-2016, Wiesbaden

Jörke D. 2011: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte/ APuZ 1-2/2011

Kalarickal J., Reinecke S. 2021: Jünger, weiblicher, akademischer, in: https://taz.de/Zusammensetzung-des-neuen-Bundestags/!5806460/, 26.102021

Kim S. et al. 2024: Wie schwer es ist, in Europa eine Staatsbürgerschaft zu erhalten, in: Der Standard, 27.10.2024

Kontrast 2024: Das sind die neuen Abgeordneten im Nationalrat: Zahlen, Fakten und Grafiken, https://kontrast.at/neue-abgeordnete-nationalrat-parlament/, 29.10.2024

Kritzinger S., Wagner M. 2023: Wähler*innen und Wahlverhalten. In: Praprotnik K., Perlot F. (Hg.): Das Politische System Österreichs. Wien/ Köln

Perlot F., Filzmaier P. 2023: Wahlrecht. In: Praprotnik K., Perlot F. (Hg.): Das Politische System Österreichs. Wien/ Köln

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