Europa als Dritte Kraft

Der Historiker Wilfried Loth sieht im Konzept eines „Europas der Dritten Kraft“, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Konjunktur hatte, eine der Triebkräfte der europäischen Integration. Inwieweit ist diese Konzeption heute noch – bzw. wieder – aktuell?


„In Europa und überall auf der Welt gibt es Staaten, Gruppen und Individuen, die verstanden haben, dass beim gegenwärtigen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung keines der großen Probleme mehr im Rahmen der Grenzen zufrieden stellend gelöst werden kann, dass ohne eine lebendige Solidarität mit den anderen kein Volk mehr in Wohlstand leben, ja überhaupt überleben kann, und dass man sich gruppieren, föderieren, einigen muss oder untergehen wird. Sie lehnen es ab, sich von vornherein in eines der Lager einschließen zu lassen, die sich die Welt zu teilen scheinen, weil sie die Notwendigkeit einer universellen Solidarität empfinden, weil sie die Gefahr für den Frieden ermessen, die ein Fort­dauern der Teilung und der Gegensätze enthält, und weil sie begreifen, was das Wort Krieg heute bedeutet.“

Diese – von heute eher unüblichem Pathos getragene - Passage entstammt der Regierungserklärung von Léon Blum (zit. in Loth 2016), gehalten am 21. November 1947 in der französischen National­versammlung. Blum war französischer Jurist, Schriftsteller und Politiker. Er war dreimal kurzzeitig französischer Premier­minister, zuletzt von 1946 bis 1947. Blum war Pazifist und Sozialist und während des Zweiten Welt­kriegs ein führender Kopf des französischen Widerstandes.

Sein Konzept eines „Europas der Dritten Kraft“, das sich in der Rede bereits ankündigt, wird im Artikel „Die internationale Dritte Kraft“, den Blum am 6. Jänner 1948 in der Zeitung Le Populaire veröffent­lichte, näher umrissen. Blum reagiert darin freudig auf eine Rede des damali­gen britischen Labour-Premiers Clement Attlee, die von der gleichen Idee beseelt war.

Dem deutschen Historiker Wilfried Loth ist es zu verdanken, dass er mit seinem für das Themenportal Euro­päische Geschichte verfassten Essay zu dieser Quelle Blums Konzept wieder vor den Vorhang geholt hat. Seine Ausführungen zu den Zielsetzungen und Folge­wirkungen des Konzepts werden im Folgenden kurz wieder­gegeben, ehe dessen Aktualität diskutiert wird.

Zielsetzungen des Konzepts

Historischer Hintergrund war der Beginn des Kalten Krieges, den Loth mit der sowjetischen Absage an den Marshall-Plan im Juli 1947 festmacht. Blums Konzept war einerseits gegen die Truman-Doktrin gerichtet, mit welcher der US-Präsident den Anspruch der USA auf die Führung der „freien Völker“ begründete, andererseits gegen die Gründung der Kominform im Oktober 1947, wo die Sowjetunion als Führerin des „antiimperialistischen und demokratischen Lagers“ präsentiert wurde. D.h. Blum weigerte sich, die sich abzeichnende Teilung der Welt in Ost und West als unabänderlich hinzu­nehmen.

Sein Ziel war jedoch nicht bloß die Etablierung einer neutralen Pufferzone zwischen den Blöcken, sondern eines dritten Machtzentrums, das im Unterschied zu den beiden genannten Imperien aller­dings erst geschaffen werden musste. Zu diesem Zweck wurde die Ver­ständigung zwischen den ver­bliebenen Mächten in Westeuropa, Frankreich und Großbritannien, als grundlegend erachtet. Um diesen „festen Kern“ sollten sich in der Folge weitere europäi­sche Nationen scharen. Der Zusammen­schluss und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen sollten die Europäer in die Lage versetzen, ihre Eigenständig­keit zu bewahren und ihre spezifische Lebens­weise zu behaupten.

Auf den Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion, der das Risiko einer atomaren Selbst­zerstörung in sich barg, wollte man mäßigend einwirken. Durch den Versuch, zwischen den verfein­deten Lagern zu vermitteln, würde, so Blum (2024), „der demokratische Sozialismus, wie es einer langen Tradition entspricht, wieder einmal zum Herold und Interpreten des Friedens werden“.

Loth betont, dass keine Äquidistanz zu den beiden Weltmächten beabsichtigt war, sondern West­europa weiterhin Teil der „freien Welt“ bleiben sollte – jedoch ohne das amerikanische Modell sklavisch zu übernehmen. Denn Blum war der Ansicht, dass es mehrere gesellschafts­politische Optionen unter demokratischem Vorzeichen geben kann.

Rezeption und Folgewirkungen

Die Weigerung, sich vorbehaltlos dem westlichen Block anzuschließen, war laut Loth in der unmittel­baren Nachkriegszeit weit verbreitet; ebenso das Bedürfnis, Europa eigenständig zu organi­sieren. Die Bemühungen um Unabhängigkeit von der amerikanischen Schutzmacht wurden jedoch dadurch konterkariert, dass sich die zur Einigung aufgerufenen Länder gerade entschlossen hatten, am Marshall-Plan teilzunehmen.

Unterstützung für das Konzepts kam jedenfalls von französischen Intellektuellen wie Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre oder Maurice Merleau-Ponty; weiters durch Sozialisten und Teile der Christdemokraten auch in anderen Ländern (Großbritannien, Deutschland). Allerdings teilten nicht alle die Überzeugung, dass das europäische Gegenmodell zum amerikanischen Kapitalismus auf einen demokratischen Sozialismus, für Blum eine Kombination aus persönlicher Freiheit und kollektiver Wirtschaft bzw. von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, hinauslaufen soll.

Die weitere politische Entwicklung verlief zudem in eine andere Richtung. Nur wenige Wochen nach Erscheinen des Artikels kam es zur kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei, die bei vielen die Furcht vor einer weiteren Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs und den Ruf nach militärischem Schutz durch die USA verstärkte. Das Ziel eines unabhängigen Europas verlor demgegenüber an Bedeutung.

Auch konnte die Achse Paris-London nicht verwirklicht werden. Trotz entsprechender französischer Bemühungen blieben die Briten, die ab 1951 wieder konservativ regiert wurden, gegenüber einer europäischen Vereinigung skeptisch. Der französische Außenminister Robert Schuman wagte in der Folge mit der Montanunion einen Anfang ohne britische Beteiligung. Dieser war zwar erfolgreich und mündete letztlich in der heutigen EU, hatte jedoch eine wirtschaftsliberale Schlagseite und ging somit ideologisch in eine andere Richtung als von Blum intendiert.

Zur Aktualität des Konzepts

Léon Blum plädierte für einen doppelten Mittelweg: Zum einen propagierte er den demokratischen Sozialismus als Alternative sowohl zum unsozialen Kapitalismus amerikanischer Prägung wie auch zum autoritärem Sozialismus á la UdSSR. Zum anderen sah er das geeinigte Europa zwar weiterhin als Teil der „freien Welt“, aber als Alternative zur bedingungslosen Westanbindung.

Mit beidem ist er gescheitert. Zum einen aufgrund externen Drucks: Sein Ansatz wurde von keiner der damaligen Großmächte goutiert, zumal er ihre Vorherrschaft eingeschränkt bzw. gefährdet hätte. Zum anderen aufgrund der internen Uneinigkeit der Europäer: Hier bestanden Differenzen sowohl zwischen „Atlantikern“ und „Neutralisten“ als auch zwischen Befürwortern und Gegnern eines demokratischen Sozialismus.

Ist Blums Ansatz eines „Europas der Dritten Kraft“ deshalb passé? Lange Zeit sah es so aus. Die US-amerikanische Konsum- und Populärkultur hat uns längst in ihren Bann gezogen und auch außen­politisch fühlte man sich ganz wohl unter dem militärischen Schutzschirm der USA.

Zwar schien der Ost-West-Konflikt nach 1989 überwunden oder zumindest abgeschwächt zu sein, doch vor dem Hintergrund des Erstarkens Chinas und spätestens seit Putins Ukraine-Krieg ist dieser in neuer Form wieder aufgeflammt. Aber dann kam Trump und stellt die US-amerikanische Schutz­funktion infrage. Europa sieht sich seither genötigt, sich sicherheitspolitisch auf eigene Beine zu stellen, und die US-Dominanz wird wesentlich kritischer gesehen als zuvor.

In gesellschaftspolitischer Hinsicht ist zwar die Systemkonkurrenz Kapitalismus versus Kommunismus weggefallen, aber der universelle Siegeszug der liberalen Demokratie ist bekanntlich nicht einge­treten. Stattdessen ist nun auch im Westen eine Tendenz zur Autokratie zu beobachten, gepaart mit Wirtschaftsliberalismus nach innen (mit der „Kettensäge“ als Symbol) und einem zollbewehrten Protektionismus nach außen. 

Insofern könnte Blums Konzept wieder an Relevanz gewinnen. Der Wunsch nach Frieden und Stabili­tät auf dem Kontinent ist erneut sehr groß. Und auch wenn nicht alle Blums gesell­schafts­politische Vor­stellungen teilen: Zumindest auf das vorhandene Modell einer „Sozialen Demokratie“ (i.e. liberale Demokratie plus Sozialstaat) als europäische Errungenschaft sollte man sich ver­ständigen können. Und das auch offensiv vertreten. 

 

© Hansjörg Seckauer 2025

 

Quellen:

Blum L. 2024: Die internationale Dritte Kraft. Leitartikel in Le Populaire (Jänner 1948), in: Themenportal Europäische Geschichte, www.europa.clio-online.de, dl. 04.11.2024

Eckelmann S. 2014: Léon Blum 1872-1950, in: Lemo, Lebendiges Museum Online, 14.09.2014

Loth W. 2016: Léon Blum und das Europa der Dritten Kraft, in: Themenportal Europäische Geschichte, www.europa.clio-online.de, 19.02.2016 

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